Vortragsreihe
Die Schrift des Ephemeren
eikones Forum
Vortragsreihe zur Konzeption musikalischer Notationen
Musikalische Notationssysteme sind unweigerlich mit der Schwierigkeit konfrontiert, das Flüchtige und Vergängliche des Klangs in Schrift festzuhalten. Isidor von Sevilla bringt in den «Etymologiae» (7. Jh.) die Unmöglichkeit zum Ausdruck, Klänge in Schrift eigens zu fassen, die Unmöglichkeit also, Stimme und Laute, sofern es sich nicht um Worte handelt, aufzuschreiben: «Falls der Mensch Töne nicht im Gedächtnis bewahrt, gehen sie verloren, denn man kann sie nicht schreiben ». Interjektionen, sprachliche Ausdruckswerte, aber auch musikalische Klänge – allesamt nicht-sprachlich artikulierte Laute – kann man nicht in Schrift festhalten. Die reine Phänomenalität des Klangs mit ihren feinen Nuancen und ihrer ephemeren Daseinsweise ist dazu verurteilt, nach dem Augenblick des Erklingens sofort wieder zu entschwinden und kann nach Isidor nicht festgehalten werden, außer, und das ist entscheidend, wenn sie einen Eindruck im Gedächtnis hinterlässt, wenn sie sich in der «Memoria» einprägt.
Im Laufe der Geschichte entstanden in ganz unterschiedlichen kulturellen Kreisen mannigfaltige Notationssysteme, die fortwährend verändert und weiterentwickelt wurden. Ab etwa dem 9. Jahrhundert breitete sich im europäischen Kulturraum eine erste Verschriftlichung des Chorals aus, die aus Neumen bestand, und die im Wesentlichen ein Katalog von mnemonischen Zeichen für den Sänger darstellen sollte. Zu Beginn des 11. Jahrhunderts setzten sich räumliche Darstellungsweisen der Tonhöhen auf Linien durch, die es erlauben sollten, auch unbekannte Melodien ohne jede Vorkenntnis reproduzieren zu können. Nach dem Aufkommen der frühen Mehrstimmigkeit entstand ab dem 12. Jahrhundert die Modalnotation, die einen der ersten Versuche darstellt, unterschiedliche gleichzeitig aufgeführte Stimmen zu synchronisieren. Ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts setzten sich dann mit der musica mensurabilis – der meßbaren Musik – Notationssysteme durch, die rhythmisch proportionierte Dauerverhältnisse schriftlich erfassen konnten. Daraus entwickelte sich allmählich ein Notationssystem, das bis ins 20. und 21. Jahrhundert reichen sollte.
Jede musikalische Notenschrift ist eine besondere Ausprägung des Schreibens aus dem Geist des Ikonischen, insofern dieses auf eine musikalische Klanggestalt hinzudeuten beabsichtigt und eine strukturelle Räumlichkeit erzeugt bzw. erfordert. Seit den 1950er Jahren entwickelte sich eine neue Form des Notierens, die graphische Notation, die auf einer tiefgehenden Verschränkung des Auditiven und des Ikonischen gründet. Grundlegend ist dabei eine Radikalisierung der Problematik, die jedes Notationssystem seit jeher unweigerlich begleitet: das Flüchtige und Vergängliche des Klangs in Schrift oder in einem Bild festzuhalten. Die Verwobenheit der Klänge mit Zeit und Bewegung, die Unfasslichkeit und Unsichtbarkeit ihres zeitlich-räumlichen Wesens, macht die Niederschrift akustischer Phänomene zu einem bildtheoretischen Problem. Der Vergleich zwischen musikalischer Notation und sprachlicher Schrift stellt uns vor eine wesentliche Differenz: Während Schrift auf einen ihr externen sichtbaren Bedeutungsinhalt verweist – sie ist immer «Anzeige und Ausdruck» (Husserl und Derrida) –, so ist hingegen Notation niemals Ausdruck von bildhafter Bedeutung, sondern ist immer nur Anzeige flüchtiger Gegenstände: sie verweist auf die Performativität klanglicher Ereignisse in der Zeit. Noten-Schrift ist ihrem Wesen nach dazu bestimmt, ephemere «Zeitphänomene» schriftlich zu fixieren, sie ist somit der materielle Träger einer dialektischen Spannung zwischen Bild und Klang, zwischen Erinnerung und Vergegenwärtigung, zwischen Bildhaftem und Bilderlosem.
Konzept: Matteo Nanni
Referierende: Gianmario Borio, Christian Grüny, Peter Szendy, Michael Walter, Max Haas, Dorit Tanay, Mary Carruthers
Downloads: Ephemeren Poster, Ephemeren Programm
eikones NFS Bildkritik, Rheinsprung 11, CH - 4051 Basel
Archiv
Die Darstellung des Undarstellbaren. Zum Verhältnis von Zeichen und Performanz in der Musik des 20. Jahrhunderts
Referierende: Gianmario Borio
Musik als Schrift. Die Elemente des Erklingenden und die Notation
Referierende: Christian Grüny
Annotating musical notation
Referierende: Peter Szendy
Neumen: die Entstehung der Musik aus ihrer visuellen Repräsentation
Referierende: Michael Walter
Mathematik und Physik als Grundlagenwissenschaften für das Visualisieren von Musik in mittelalterlicher Sicht
Referierende: Max Haas
The Visible and the Invisible: Temporality and its notational representation in Late Medieval Music
Referierende: Dorit Tanay
Medieval Notes, musical, visual, verbal
Referierende: Mary Carruthers